IMIS-Beiträge Heft 53 - Exil in der Bundesrepublik Deutschland : Bedingungen und Herausforderungen für Künstlerinnen und Künstler

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Titel: IMIS-Beiträge Heft 53 - Exil in der Bundesrepublik Deutschland : Bedingungen und Herausforderungen für Künstlerinnen und Künstler
Autor(en): Lemmer, Laura Lotte
Oltmer, Jochen
Zusammenfassung: Das Exil kann Antrieb künstlerischen Schaffens sein, zu Höchstleistungen anregen, Kreativität hervorbringen. Es kann mit dem Zugewinn wertvoller künstlerischer Schaffensfreiheit einhergehen, Perspektiven erweitern und Türen öffnen. Das Exil bedeutet zugleich meist, und besonders am Anfang, aberauch ein neues Umfeld, ein neues Publikum, eine neue Sprache. Letztere, das Herzstück der Literatur, bedeutet besonders für Schreibende, aber auch für Theaterschaffende eine erhebliche Herausforderung. Kamerafrauen und -männer etwa müssen sich derweil mit der Frage beschäftigen, ob die erlernten Techniken im Exilland Bundesrepublik die Gültigkeit haben, die sie im Herkunftsland hatten. Mit neuen Formen der Selbstvermarktung müssen sichzuweilen beispielsweise Musikerinnen, Bildende Künstler und Fotografinnenauseinandersetzen. Die Auseinandersetzung mit Fragen der eigenen Identität ist angesichts häufiger traumatischer Erfahrungen vor und während der Flucht, aber auch angesichts der zum Teil erheblichen Schwierigkeiten, einen Status für Schutz und Aufenthalt zu finden und mit Prozessen des Labeling als ›Flüchtling‹, als ›Opfer‹, als ›Hilfsbedürftige‹ konfrontiert zu sein, über kurz oder lang nahezu unausweichlich. Im Kontext von Fremdbildern, die die Künstlerin bzw. den Künstler ausschließlich auf die Exilexistenz reduzieren, müssen Kunstschaffende ihr Können, die künstlerische Qualität ihrer Arbeit in besonderem Maße unter Beweis stellen. Die möglicherweise im Herkunftsland dagewesene Anerkennung und Bekanntheit ist verloren. Künstlerisch Schaffende müssen sich eine gänzlich neue Reputation aufbauen, während sie gleichzeitig auf die Aneignung von komplexem Wissen über den hiesigen Kunst- und Kulturbetrieb angewiesen sind. Es steht mithin außer Frage, dass die Situation als künstlerisch schaffende Person im Exilland Deutschland herausfordernd ist, zahlreiche Hindernisse und Hürden bestehen (siehe Kapitel 3.3) und dies mitunter dazu führt, dass Künstlerinnen und Künstler in der Bundesrepublik ihrer Profession nicht weiter nachgehen können, respektive – wie in mehreren Gesprächen betont wird – das »Aufgeben« eine intensiv reflektierte Option darstellt. Zugleich aber gilt es zu betonen, dass jegliche Viktimisierung unbegründet ist: Unbestreitbar haben Exilkünstlerinnen und -künstler strategisch kluge Umgangsweisen mit den Herausforderungen entwickelt – wie in Kapitel 3.3 skizzenhaft thematisiert –, Zugänge in die kompetitive Kunstszene gefunden, sich vernetzt, Projekte auf den Weg gebracht, ausgestellt, Konzerte gegeben, Lesungen bestritten, Bücher veröffentlicht, Filme produziert, Theaterstücke aufgeführt, Vereine gegründet und sind mit diversen Preisen ausgezeichnetworden. Die kreativ schaffenden Gesprächspartnerinnen und -partner dieser Studie sind sehr verschieden, nicht bloß hinsichtlich ihrer Kunstsparte, sondern auch in Bezug auf ihre internationale und nationale Bekanntheit und bezüglich der Frage, inwiefern sie sich selbst etwa im Kunst- und Kulturbetrieb der Bundesrepublik angekommen sehen (siehe Kapitel 1.2 und Kapitel 4.1). Nicht weniger komplex ist das bestehende System der Förderung. Die Förderlandschaft ist fragmentiert; zahlreiche verschiedenartige Institutionen und vielfältige Formen der Förderung lassen sich ausmachen (siehe Kapitel 4.1 und Anhang 8.3). Mit Herausforderungen sehen sich die Institutionen und Förderprogramme konfrontiert aufgrund von restriktiven Visapolitiken, fehlenden finanziellen Mitteln, Praktiken des Labeling und den Problemen, nachhaltige Förderformen zu entwickeln (siehe Kapitel 4.2). Für die überblicksartige Zusammenstellung relevanter Informationen zu den Arbeits- und Lebensbedingungen von im Exil lebenden Künstlerinnen und Künstlern sowie zu den Förderstrukturen und Fördersystemen war der ausgesprochen gute Feldzugang, die große Gesprächsbereitschaft und Offenheit vieler Institutionen und künstlerisch Schaffender sowie das der Studie entgegengebrachte hohe Interesse außerordentlich hilfreich (siehe Kapitel 1.2). Am weiterhin hohen Forschungsbedarf (siehe Kapitel 1.1) vermag sie nichts zu ändern, weil sich für eine tiefergehende Analyse des breiten Themenkomplexes der zeitliche Rahmen nicht eignete. Es bleiben nicht nur viele Fragen offen, die Untersuchung selbst wirft eine Vielzahl neuer Fragen auf. Für weitere Auseinandersetzungen mit dem Themenfeld wäre es zentral, Arbeits- und Lebensbedingungen kunstspartenspezifisch zu fokussieren und verschiedene Kunstsparten miteinander zu vergleichen, denn ein tiefgehender Einblick in und zwischen einzelnen sich in ihrer Logik unterscheidenden Kunstsparten konnte in dieser Untersuchung nicht gewonnen werden. Spartenspezifische Bedingungen deuteten sich im Rahmen der Feldforschung vielfach an: So wurden Sprache und die unterschiedliche Verbreitung von Musik- und Literaturstilen als spezifische Hürden bereits angeführt (siehe Kapitel 3.3). Mit Blick auf die Sparten Bildende Kunst und Musik wird zudem die Problematik angesprochen, dass der Weg ins Exil nicht zuließ, Kunstwerke und Instrumente mitzunehmen. Darüber hinaus variiert in der Musik die Verwendung von Instrumenten. In dieser Hinsicht wird das Beispiel des Saiteninstruments Oud in mehreren Gesprächen thematisiert – ein Instrument, das im arabischsprachigen Raum weit verbreitet, in der Bundesrepublik aber weitgehend unbekannt ist. Ein Publikum für Oud-Konzerte muss erst erschlossen werden. Außerdem ist das Saiteninstrument in der Regel nicht Bestandteil deutscher Orchester. Sofern Oud-Spielerinnern und Spieler hier überhaupt aufgenommen werden möchten, bliebe ihnen lediglich die Option, ein neues Saiteninstrument zu erlernen. Insbesondere Filmschaffende im Exil verweisen auf die Komplexität des Fördersystems in der Bundesrepublik sowie auf die Hürden der Bewilligung von Förderanträgen, da sie aufgrund hoher Produktionskosten in besonderer Weise auf finanzielle Unterstützung angewiesen sind. Belangvoll für die weitere Forschung ist zudem ein Städte- sowie Regionenvergleich. In dieser Studie konnte ein erster Einblick in die Arbeits- und Lebensbedingungen insbesondere im Berliner Raum gegeben werden. Trotz des Schwerpunkts bedarf es aber auch für die Bundeshauptstadt weiterhin einer näheren Untersuchung. Für den Blick auf weitere Groß- und Mittelstädte sowie vor allem auch kleinere Kommunen könnte sich die Fragestellung als weiterführend erweisen, unter welchen lokalen Bedingungen sich stabile künstlerische Communities bilden konnten und können. In Berlin lebt eine große Anzahl syrischer Kunstschaffender (siehe Kapitel 2), es scheinen sich eine Community bzw. mehrere kunstspartenspezifische Communities gebildet zu haben, wenngleich die Intensität der Vernetzung untereinander unterschiedlich bewertet wird (siehe Kapitel 3.1). Eingehende Analysen der syrischen Community sowie intensive Auseinandersetzungen mit der Frage, ob und welche weiteren Communities existieren und inwiefern sie miteinander vernetzt sind, wären wünschenswert. Besonders von Vertreterinnen und Vertretern aus der Praxis wird ein Bedarf an gleichstellungsrelevanten Daten geltend gemacht. Eine Übersicht über den Status quo der Diversität im Kunst- und Kulturbetrieb anhand quantitativer Daten sei erforderlich, um wirksame Maßnahmen gegen Benachteiligung zu entwickeln und zu implementieren. Hieran anschließend kann sich zudem eine intersektionale Perspektive auf den Themenkomplex, indem beispielsweise die Position von Künstlerinnen im Exil detailliert beleuchtet wird, als fruchtbar erweisen. Nicht behandelt werden konnte zudem die hochrelevante Frage, auf welche Weise das Exil zu einem Wandel im Kunst- und Kulturbetrieb führt. In Hinsicht auf diese Frage könnten zudem nicht nur internationale Vergleiche weiteren Aufschluss geben, sondern insbesondere auch Längsschnittuntersuchungen: Immerhin sind die Kenntnisse über die Geschichte der Bundesrepublik als Land des Exils von Künstlerinnen und Künstlern seit den 1950er Jahren ausgesprochen gering. Nicht zuletzt erscheint es insbesondere aus einer theoretischen Perspektive heraus weiterführend, eine Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart des Exils von Künstlerinnen und Künstlern zu nutzen, um die Perspektiven der Erweiterung des Exilbegriffs sowie einer verstärkten Verknüpfung der Ansätze von Exil- und Migrationsforschung zu führen (siehe Kapitel 1.1). Wenngleich der Forschungsbedarf weiterhin als groß gelten kann, bleibt zu hoffen, dass die Erkenntnisse dieser Überblicksstudie ein Anknüpfungspunkt für weitere wissenschaftliche Auseinandersetzungen sein können. Außerdem bieten die aus dem Feld kommenden Handlungsempfehlungen (siehe Kapitel 5) die Chance, in eine intensive Diskussion über die Möglichkeiten, Instrumente und Strategien der Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen von Künstlerinnen und Künstlern im Exilland Deutschland einzutreten.
Bibliografische Angaben: IMIS-Beiträge ; 53. Themenheft Laura Lotte Lemmer/Jochen Oltmer, Exil in der Bundesrepublik Deutschland : Bedingungen und Herausforderungen für Künstlerinnen und Künstler. (IMIS-Beiträge, H. 53), Osnabrück: IMIS (2020), ISBN 978-3-9821452-0-4
URL: https://osnadocs.ub.uni-osnabrueck.de/handle/urn:nbn:de:gbv:700-202001132518
Schlagworte: Bundesrepublik Deutschland; Künstler; Kunst; Förderprogramme; Exil; Migration
Erscheinungsdatum: 1-Jan-2020
Lizenzbezeichnung: Attribution 3.0 Germany
URL der Lizenz: http://creativecommons.org/licenses/by/3.0/de/
Publikationstyp: Teil eines Periodikums [PeriodicalPart]
Enthalten in den Sammlungen:IMIS-Beiträge

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